Seit März 2025 führt die Deutsche Bahn am Bahnhof Südkreuz ein Experiment durch, das die Tierrechtsgemeinschaft zu Recht alarmieren sollte. Unter dem Namen „Ovistop" wird Stadttauben mit Nicarbazin beschichteter Mais verabreicht – ein Mittel, das ursprünglich für die industrielle Geflügelmast konzipiert wurde. Doch was unter großem Zeitdruck und mit minimalen Langzeitstudien an Tauben umgesetzt wird, könnte für die Tiere zu katastrophalen Folgen führen.
Ovistop wurde als Kokzidiostatikum zur Parasitenbekämpfung in der Hähnchenmast entwickelt – für Vögel, die nur 28 bis 42 Tage leben. Die Anwendungsgeschichte bei Masthühnern zeigt bereits dokumentierte Nebenwirkungen: verminderte Legerate, Leberverfettung, Hitzeempfindlichkeit und erhöhte Stoffwechselrate. Doch Stadttauben sind keine Masthähnchen. Sie können unter günstigen Bedingungen bis zu 10 Jahre leben – und sollen nun ein Leben lang dauerhaft Ovistop aufnehmen.
Hier liegt das fundamentale Problem: Die Langzeitstudien fehlen. Die bekannten Nebenwirkungen wurden bei Tieren untersucht, die nur wenige Wochen behandelt wurden. Niemand weiß wirklich, was passiert, wenn eine Taube über Jahre hinweg diesen Wirkstoff aufnimmt.
Aus der Fachliteratur zu Nicarbazin sind folgende Effekte bekannt:
Hitzeempfindlichkeit mit Todesfolge: Besonders während der Brutzeit im Sommer kann dies für Tauben fatal sein – und Berlin erlebt immer häufiger Hitzewellen
Appetitlosigkeit: Für unterernährte Stadttauben, die bereits um ihre Nahrung kämpfen, kann dies zum Hungertod führen
Verdünnte Eierschalen: Weibliche Tauben können unter Eigang leiden, was zu einem qualvollen Tod führt
Leberverfettung und erhöhte Stoffwechselrate: Langzeitfolgen sind völlig unklar
Verminderte Wasser- und Futteraufnahme: Für freilebende Tauben unter Stress eine existenzielle Bedrohung
Während die Herstellerin Victoria Adam 10 Gramm Ovistop pro Taube pro Tag als sicher einstuft – was völlig unrealistisch ist und zum Verhungern führen würde – bleibt völlig ungeklärt, welche Dosierungen bei Freilandfütterung tatsächlich aufgenommen werden. Dominante Tauben werden überversorgt, schwache Tiere bekommen zu wenig. Eine tiermedizinische Überwachung ist unter diesen Bedingungen illusorisch.
Die Stadt Düsseldorf hat im Mai 2024 gute Gründe für ein klares Verbot von Ovistop gehabt. Nach einer Nutzen-Risiko-Abwägung kam die Stadt zu dem Ergebnis, dass die Risiken den Nutzen überwiegen. Als Gründe wurden genannt:
Sorge vor Resistenzbildung gegen den Wirkstoff
Nebenwirkungen bei den Tauben selbst
Potenzielle Nebenwirkungen auf andere Tierarten
Düsseldorf setzt stattdessen auf das bewährte Konzept der kontrollierten Taubenschläge – eine Methode, die Tierschutz und Populationskontrolle tatsächlich verbindet, statt eines gegen das andere auszuspielen.
Die Tierschutzbeauftragte Berlins lehnt Ovistop ebenfalls ab. Sie argumentiert zurecht, dass das Mittel gegen das Tierschutzgesetz verstößt – es kann zu Schmerzen, Leiden und Schäden führen, die nicht zu rechtfertigen sind.
Das Mittel hat in Deutschland keine offizielle Zulassung für die Anwendung bei Stadttauben. Stattdessen wird es über eine sogenannte „Umwidmungskaskade" verabreicht – ein Verfahren, bei dem zugelassene Tierarzneimittel für andere Zwecke verwendet werden. Doch ob die gesetzlichen Kriterien dafür wirklich erfüllt sind, bleibt fraglich.
Darüber hinaus gibt es artenschutzrechtliche Bedenken. Das Ausbringen kontrazeptiver Medikamente könnte gegen das Bundesnaturschutzgesetz verstoßen, weshalb das Land Berlin den Einsatz ursprünglich auch abgelehnt hat – bis die Deutsche Bahn das Projekt einfach ohne klare behördliche Genehmigung startete.
Ovistop wird als kostengünstige Lösung angepriesen, doch die Realität sieht anders aus: Die jährlichen Kosten für die Behandlung von nur 100 Tauben betragen etwa 4.500 Euro. Das ist eine teure Dauersubvention für ein Mittel, dessen Wirksamkeit und Sicherheit nie ordentlich untersucht wurde. Eine echte Kosten-Nutzen-Analyse existiert nicht – die Deutsche Bahn verweigert Transparenz.
Tauben sind verwilderte Haustiere, die auf menschliche Fürsorge angewiesen sind. Sie verdienen:
Kontrollierte Taubenschläge: Mit tiermedizinischer Betreuung, artgerechtem Futter und sauberen Schlafplätzen
Aufklärung und Koexistenz: Eine gesellschaftliche Debatte über unser Verhältnis zu städtischen Vögeln
Tauben sind keine Schädlinge und keine Versuchsobjekte. Sie sind empfindungsfähige Lebewesen, deren Leiden wir zu verantworten hätten. Das Experiment mit Ovistop ist ein Verstoß gegen elementare Prinzipien des Tierschutzes – und es endet nicht am Südkreuz, sondern wird Schule machen, wenn wir jetzt nicht klar widersprechen.
Die Zeit zu handeln ist jetzt.