Die Paramyxovirose (kurz PMV) ist eine der häufigsten und gefährlichsten Viruserkrankungen bei Tauben. Man kann sie sich wie eine sehr aggressive Grippe vorstellen, die aber nicht nur Schnupfen verursacht, sondern gezielt das Gehirn und die Nerven angreift. Für Tauben ist das lebensgefährlich, da sie dadurch die Kontrolle über ihren Körper verlieren.
Das Virus ist sehr ansteckend. Tauben nehmen es meistens über:
Staub in der Luft,
versuchtes Trinkwasser oder
direkten Kontakt mit kranken Artgenossen auf.
Einmal eingeatmet oder verschluckt, beginnt die Reise des Virus durch den Körper.
In den ersten Tagen (etwa 1 bis 2 Wochen) merkt man der Taube äußerlich oft noch nichts an den Nerven an. Das Virus vermehrt sich zunächst in den Nieren und im Darm.
Folge: Die Taube scheidet viel Wasser aus. Sie trinkt extrem viel und der Kot liegt oft in einer Wasserlache (sogenannte "Polyurie"). Das ist das erste Warnzeichen.
Nach etwa zwei bis drei Wochen geschieht das Entscheidende: Das Virus schafft es, die Barriere zum Gehirn zu überwinden. Normalerweise ist das Gehirn durch eine "Schutzmauer" (Blut-Hirn-Schranke) vor Viren im Blut geschützt. Doch das PMV-Virus besitzt chemische Werkzeuge, um diese Mauer zu durchlöchern.
Sobald es im Gehirn und Rückenmark ist, beginnt der eigentliche Schaden.
Wie kommt das Virus in eine Nervenzelle?
Der Schlüssel: Auf der Oberfläche des Virus sitzen kleine Eiweiß-Zacken. Diese passen genau in bestimmte "Schlösser" auf der Oberfläche der Nervenzellen.
Das Andocken: Das Virus täuscht der Zelle vor, harmlos zu sein, und dockt an.
Das Verschmelzen: Mit einem zweiten Werkzeug öffnet das Virus die Außenhaut der Nervenzelle und schlüpft hinein.
Ist das Virus erst einmal in der Nervenzelle, kapert es diese. Die Nervenzelle hat nun keine Zeit mehr für ihre eigentlichen Aufgaben (Reize weiterleiten). Stattdessen wird sie zur Virus-Fabrik umgebaut. Sie muss nun Tausende Kopien des Virus herstellen, bis sie vor Erschöpfung stirbt oder platzt.
Das Virus befällt nicht irgendeinen Teil des Gehirns, sondern ganz gezielt das Gleichgewichtszentrum (im Kleinhirn und Stammhirn).
Das Wasserwaagen-Prinzip: Das Gleichgewichtszentrum funktioniert wie eine Wasserwaage im Kopf. Es sagt der Taube: "Wo ist oben? Wo ist unten? Stehe ich gerade?"
Der Schaden: Da das Virus genau diese Zellen zerstört, geht die "Wasserwaage" kaputt. Die Taube weiß nicht mehr, wie sie ihren Kopf halten muss.
Die Reaktion: Das Gehirn ist verwirrt und sendet falsche Signale an die Halsmuskeln. Die Folge sind die typischen Drehbewegungen, das Überkopf-Rollen oder das wilde Kreisen am Boden. Die Taube versucht verzweifelt, sich auszubalancieren, was aber aufgrund der kaputten "Sensoren" nicht gelingt.
Nervenzellen sind wie Stromkabel, die Signale vom Gehirn zu den Muskeln senden.
Das Virus beschädigt die Isolierung und die Verbindungsstellen (Synapsen) dieser Kabel.
Folge: Die Signale kommen gar nicht oder völlig verfälscht an. Wenn die Taube "Geh vorwärts" denkt, kommt vielleicht "Dreh dich" beim Muskel an oder die Beine gehorchen gar nicht.
Ein Teil des Schadens wird gar nicht vom Virus selbst verursacht, sondern vom eigenen Abwehrsystem der Taube.
Die Polizei des Körpers (weiße Blutkörperchen) erkennt die infizierten Nervenzellen.
Um das Virus zu stoppen, greifen diese Abwehrzellen die eigenen Nervenzellen an und zerstören sie.
Dabei entsteht eine starke Entzündung im Gehirn. Dies ist wie ein Kollateralschaden im Krieg: Um den Feind zu treffen, wird leider auch das eigene "Haus" (das Nervengewebe) beschädigt.
Zusammenfassend macht PMV Folgendes:
Es bricht ins Gehirn ein.
Es zerstört die Zellen, die für das Gleichgewicht zuständig sind.
Es kappt die Leitungen zwischen Gehirn und Muskeln.
Die gute Nachricht:
Obwohl das Nervensystem schwer getroffen wird, können Tauben überleben. Nervenzellen heilen zwar langsam, aber das Gehirn ist lernfähig. Wenn die Taube während der schlimmsten Phase (wenn sie nicht selbst fressen kann) von Menschen gefüttert und gepflegt wird, kann das Gehirn oft lernen, die fehlenden Verbindungen zu umgehen. Nach einigen Wochen beruhigt sich die Entzündung, und viele Tauben können wieder ein fast normales Leben führen.
Quellen:
Vetipedia der FU Berlin - Paramyxovirose der Taube
https://userwikis.fu-berlin.de/spaces/vetipedia/pages/770180745/Paramyxovirose+der+Taube
Dissertation von Anya Schmellekamp (Uni München)
https://edoc.ub.uni-muenchen.de/3699/01/Schmellekamp_Anya.pdf
DocCheck Flexikon - Paramyxovirus-Infektion
https://flexikon.doccheck.com/de/Paramyxovirus-Infektion_(Gefl%C3%BCgel)
Stadttaubenhilfe - Paramyxovirose
https://www.stadttaubenhilfe.com/paramyxovirose-1.html
Wikipedia - Paramyxovirose
https://de.wikipedia.org/wiki/Paramyxovirose
Wissenschaftlicher Artikel über Neuroinvasion
https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC9870660/
National Institutes of Health (NIH) / PubMed Central