Die Stadttaube ist nicht einfach ein Vogel – sie ist das lebende Denkmal einer tausendjährigen menschlichen Beziehung zu einer anderen Spezies. Über mehr als 7.000 Jahre hinweg züchtete der Mensch die Felsentaube zur Hausttaube um, um sich ihrer Fleisches, ihrer Eier und ihrer unglaublichen Orientierungsfähigkeit zu bedienen. Tauben wurden zur Nachrichtenüberbringung über Kontinente hinweg geschickt, als Fleischlieferant in Taubentürmen gehegt, als Symbol des Friedens in religiöse Rituale eingebunden. Dann, im zwanzigsten Jahrhundert, verschwanden die Schläge. Kühlschränke wurden erfunden. E-Mail-Systeme ersetzten Brieftaubennetzwerke. Der Mensch brauchte die Tauben nicht mehr – aber die Tauben konnten nicht wieder Wildtiere werden. Diese biologische und psychologische Wahrheit ist der Kern jedes tierschutzrechtlichen Arguments für die Fütterung von Stadttauben: Der Mensch hat diese Tiere geschaffen, und er kann sich von der Verantwortung nicht einfach durch ein Verbot befreien.
Die wissenschaftliche Klarheit ist hier absolut: Stadttauben sind nicht „verwildert" im klassischen Sinne, da Verwilderung eine Rückkehr zu wilden Verhaltensweisen und genetischen Programmen bedeuten würde. Das Gegenteil ist wahr. Stadttauben haben sich unter der Domestikation so fundamental verändert, dass eine Rückkehr zur Wildheit biologisch unmöglich ist. Die Felsentaube, die vor etwa 8.000 Jahren erstmals den Ackerbauern folgte und um 5000 v. Chr. in Ägypten und Mesopotamien gezielt gezüchtet wurde, unterlag einer irreversiblen genetischen Transformation.
Diese Transformation geschah nicht zufällig, sondern durch zielgerichtete Zucht. Der Mensch selektierte über Jahrtausende jene Merkmale aus, die für seine Zwecke nützlich waren: Treue zum Nest und zum Partner (ideal für Brieftauben, die zum Heimatschlag zurückkehren sollten), reduziertes Flucht- und Aggressionsverhalten (um die Tiere einfacher zu handhaben), und – am wichtigsten – ein angezüchteter, vom Nahrungsangebot unabhängiger Bruttrieb. Während die Felsentaube in der Natur einmal, maximal zweimal pro Jahr in der Brutzeit brütet, züchtete der Mensch in der Haustaube einen Vogel, der ganzjährig und ständig brütet – unabhängig von der Jahreszeit, unabhängig vom Nahrungsangebot, unabhängig von der Wahrscheinlichkeit, dass die Jungen überleben. Dies war wirtschaftlich notwendig: Ein kontinuierliches Fleischund Eierangebot war wertvoll für eine Versorgungwirtschaft ohne Tiefkühlung.
Die moderne Konsequenz dieser Zucht: Auch eine unterernährte, schwache Taube wird brüten. Auch eine in einer Stadt lebende Taube, die sich nicht selbst versorgen kann, wird Eier legen und versuchen, Jungen aufzuziehen. Dies ist nicht ein Zeichen von Anpassung – es ist ein Zeichen von tierschutzrechtlichem Versagen durch menschliche Hybris.
Ein kritischer mythos prägt den gesamten Diskurs: dass Stadttauben „verwilderte Tiere" sind, die sich „selbst versorgen können" wie andere Stadtwildnis-Tiere (Füchse, Waschbären, Rabenkrähen, etc.). Dies ist wissenschaftlich falsch. Stadttauben unterscheiden sich fundamental von diesen Tieren dadurch, dass sie keine Fähigkeiten haben, sich außerhalb von menschlichen Siedlungen zu versorgen.
Die biologische Forschung zeigt, dass Stadttauben zwar orientierungsfähig sind – eine 1998 veröffentlichte Studie bei Stuttgart dokumentiert, dass Stadttauben zu etwa 90% zurückkehren, wenn sie 10 km weggebracht werden, und zu 60%, wenn sie 37 km entfernt werden. – aber diese Fähigkeit ist für räumliche Orientierung in der urbanen Umwelt nutzlos, wenn keine Futterquellen außerhalb dieser Umwelt vorhanden sind. Die Studie zeigt: Stadttaubenschwärme unternehmen Ausflüge zu 2-6 km entfernten Feldern zur Futtersuche, aber diese sind Ergänzungsflüge, nicht Unabhängigkeitsflüge. Die Hauptnahrung ist und bleibt das, was Menschen in der Stadt fallen lassen oder wegwerfen.
Ein zweiter Punkt ist kritisch: Die Vergleichsstudie mit Brieftauben. Brieftauben werden über 500 Jahre lang gezielt für extreme Flugleistungen gezüchtet, training für höchstmaßige Orientierungsfähigkeit. Stadttauben hingegen sind keine Hochleistungsathleten – sie sind „Multihalente", wie die Forschung sie nennt, die mit kümmerlichem, schlechtem Futter überleben können, aber nicht gedeihen. Sie haben die Flugfähigkeit ihrer Brieftauben-Vorfahren nicht geerbt; sie haben stattdessen die Abhängigkeit von städtischen Futterquellen geerbt.
Das Berliner Rechtsgutachten von 2021, verfasst von Dr. Christian Arleth und Dr. Jens Hübel – zwei hochqualifizierten Expertinnen im Tierschutzrecht und in der Veterinärmedizin – kommt zu einer Schlussfolgerung, die die gesamte rechtliche Architektur um Stadttauben verändert: Stadttauben sind nicht wild, nicht herrenlos, sondern Fundtiere – und Kommunen sind die Besitzer und damit die gesetzlichen Halter mit allen damit verbundenen Verpflichtungen.
Dieses Gutachten ist keine philosophische Spekulation, sondern eine präzise juristische Analyse des BGB (Bürgerliches Gesetzbuch). Nach § 965 BGB gehen Fundtiere, wenn der ursprüngliche Eigentümer nicht ermittelbar ist, in das Eigentum des Staates über – in diesem Fall in das Eigentum der Gemeinde, auf deren Gebiet sie sich befinden. Stadttauben sind eindeutig Fundtiere: Sie sind nicht „herrenlos" in dem Sinne, dass der ursprüngliche Züchter die Eigentumsrechte aufgegeben hätte (das ist rechtlich unmöglich – eine Eigentumsaufgabe muss rechtzeitig und intentional erfolgen). Stattdessen sind sie verwahrloste Haustiere, deren Ursprungseigentümer unbekannt ist. Da der Mensch diese Tiere gezüchtet und abhängig gemacht hat, und sie sich nicht selbst versorgen können, bleiben sie in der Besitzhaftung der Kommunen.
Aus dieser Besitzhaftung folgen unmittelbar und zwingend die Halterpflichten des deutschen Tierschutzgesetzes. Dies ist nicht fakultativ – nicht „wenn die Stadt möchte" – sondern obligatorisch. Ein Halter ist nach § 2 TierSchG verpflichtet: das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend zu ernähren, zu pflegen und unterzubringen. Dies sind keine „Empfehlungen" – es sind gesetzliche Anforderungen, deren Verstoß strafbar ist.
Bevor überhaupt über Details des Tierschutzgesetzes gesprochen werden kann, muss die verfassungsrechtliche Grundlage verstanden werden. Mit der Verabschiedung von Artikel 20a des Grundgesetzes am 1. August 2002 wurde ein Revolution in der deutschen Rechtsdogmatik vollzogen: Der Tierschutz wurde vom Status einer moralischen Vorstellung zum Status eines Verfassungsmandats erhoben, äquivalent zu Umweltschutz, Menschenrechten, und anderen fundamentalen Rechtsgütern.
Der Text ist präzise: „Der Staat schützt auch in Verantwortung für die künftigen Generationen die natürlichen Lebensgrundlagen und die Tiere im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung durch die Gesetzgebung und nach Maßgabe von Gesetz und Recht durch die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung." Dies bindet nicht nur den Gesetzgeber (was man erwarten könnte), sondern ausdrücklich auch die executive (Behörden, Verwaltung, Polizei) und die Judikative (Gerichte). Jede Abwägungsentscheidung, jede Behördenentscheidung, muss das Tierschutzinteresse einkalkulieren.
Das ist fundamental anders als eine bloße programmgestaltende Zielsetzung. Das Bundesverfassungsgericht und nachgeordnete Gerichte haben geklärt, dass Art. 20a GG Eigenwertbindung schafft. Das bedeutet: Tierschutz muss nicht immer gegen alle anderen Belange durchgesetzt werden (es gibt Abwägungen), aber es kann nicht ignoriert werden. Ein absolutes Fütterungsverbot ohne Stadttaubenmanagement verstößt gegen Art. 20a GG, weil die verwaltende Gewalt ihre verfassungsrechtliche Pflicht missachtet, Leidenvermeidung zu priorisieren.
Mit Art. 20a GG als Verfassungsbasis wird die praktische Anforderung im Tierschutzgesetz präzisiert. § 1 TierSchG ist absolut klar: „Niemand darf einem Tier ohne vernünftigen Grund Schmerzen, Leiden oder Schäden zufügen." Das ist nicht „niemand sollte" – es ist „niemand darf". Es ist ein Verbot, nicht eine Empfehlung.
§ 2 TierSchG präzisiert die positive Seite dieser Verpflichtung: Der Halter – und das ist die Gemeinde im Fall von Stadttauben – ist verpflichtet, das Tier seiner Art und seinen Bedürfnissen entsprechend zu ernähren, zu pflegen und unterzubringen. Das bedeutet konkret: nicht „irgendwie Futter bereitstellen", sondern artgerecht füttern. Für Stadttauben bedeutet dies Körner (Weizen, Mais, Erbsen, Dari, Milo), nicht Brot, nicht salzige Essensabfälle, nicht verdorbene Nahrung.
Wenn ein Fütterungsverbot eine Stadt einführt – ohne dass Stadttaubenschläge existieren, ohne dass artgerechte Futterquellen verfügbar sind – dann führt diese Verordnung direkt zur Verletzung von § 1 und § 2 TierSchG. Die Stadt verursacht systematisch Leiden durch Hunger, führt zu Unterernährung, schwächem Immunsystem, erhöhter Krankheitslast, und letztlich zu Todesfällen. Das ist kein Zufall, sondern eine willentliche Zufügung von Leiden.
§ 17 TierSchG geht noch weiter. Es bestraft Straftaten gegen das Tierschutz. Mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren wird bestraft, wer „einem Wirbeltier aus Rohheit erhebliche Schmerzen oder Leiden oder längere anhaltende oder sich wiederholende erhebliche Schmerzen oder Leiden zufügt". Wer erzeugt „längere anhaltende" Leiden? Ein Fütterungsverbot, das jahrelang hunger verursacht. Wer handelt „aus Rohheit" (roher, unbarmherziger Gesinnung)? Eine Behörde, die wissentlich Taubenpopulationen aushungern lässt, während sie Ressourcen für Vergrämung und (in einigen Fällen) Tötung ausgibt.
Hier öffnet sich eine rechtliche Revolution: Die Arleth-Hübel-Gutachten argumentiert, dass Amtstierärzte eine Garantenpflicht haben können – das heißt, sie können strafrechtlich persönlich haftbar gemacht werden, wenn sie ihre Verpflichtung zum Tierschutz willentlich missachten. Ein Amtstierarzt, der ein rechtswidriges Fütterungsverbot durchsetzt und damit wissentlich Tierleid verursacht, handelt potenziell strafbar.
Diese Garantenpflicht ist nicht neu im deutschen Strafrecht – sie ist ein etabliertes Konzept für öffentliche Beamte – aber ihre Anwendung auf Tierschutzverstöße ist ein neueres Verständnis. Sie bedeutet praktisch: Es reicht nicht aus, passiv zu bleiben. Ein Amtstierarzt, der von systematischem Tierleid weiß und nicht agiert, kann personal strafrechtlich verfolgt werden.
Im Jahr 2020/2021 führte die Akademie für Tierschutzrecht eine bundesweite Umfrage durch, die 72 Interviews in 47 deutschen Städten sammelte. Die Ergebnisse sind deprimierend und klar zugleich: Das primäre Gesundheitsproblem von Stadttauben ist nicht PMV (Paramyxovirus), nicht Parasiten, nicht Verletzungen durch Vergrämung – es ist Unterernährung. In 62,5% der dokumentierten Fälle berichten Beobachter von Abmagerung und Verhungern als Haupgesundheitsproblem. Das ist fast zwei Drittel aller erfassten Gesundheitsfälle.
Diese Statistik verweist auf eine biologische Realität: Stadttauben finden in Städten nicht das Futter, das sie brauchen, um gesund zu sein. Das artgerechte Taubenfutter besteht aus Körnern mit hohem Gehalt an Kohlenhydraten und Proteinen – Weizen, Mais, Erbsen, Dari, Milo, eventuell geschälte Sonnenblumenkerne. Was Stadttauben in der Stadt finden, ist qualitativ minderwertig: Brotkrümel (führt zu Magen-Darm-Problemen), salzige Essensabfälle (verursachen Dehydrierung), Nahrung in verschiedenen Stadien der Verderbung, oft kontaminiert.
Die Konsequenzen dieser Mangel- und Fehlernährung sind verheerend und dokumentiert:
Unterernährte Tauben zeigen Gewichtsverluste bis zu 15% unter dem Normalgewicht (für erwachsene Tauben etwa 350g). Das mag nicht dramatisch klingen, bis man berücksichtigt, dass eine 15%-ige Gewichtsabnahme bei einem Menschen mehr als 12 kg bei einer durchschnittlich schweren Person bedeutet – das ist chronische, lebensverkürzende Unterernährung. Das Immunsystem dieser unterernährten Tiere ist supprimiert, das bedeutet erhöhte Anfälligkeit für Infektionen: PMV (Paramyxovirus), eine hochkontagiöse und oft tödliche Infektionskrankheit, tritt bei unterernährten Populationen epidemisch auf, während sie bei gesund ernährten Tauben kontrollierbar ist. Ebenso Trichomoniasis (parasitäre Infektion), Kokzidiose (protozoische Infektionskrankheit), Salmonellen und andere bakterielle Infektionen – alle sind bei immungeschwächten Tieren viel häufiger und tötlicher.
Vitamin- und Mineralstoffmängel führen zu Knochenschwäche, fehlerhafter Federbildung (was die Flugfähigkeit reduziert und damit Prädation durch Greifvögel erhöht), zu Missbildungen bei Embryonen und Jungtieren, und zu Verhaltensänderungen (Apathie, mangelnde Vigilanz). Ein besonders grausames Symptom ist der sogenannte „Hungerkot" – Ausscheidungen von Tauben, die nur schlechtes Futter konsumieren, was für Beobachter sichtbar ist: verdorbene Futter-in-Kot-Form, das auf zusätzliche intestinale Probleme hinweist.
Ein besonders tragisches Phänomen ist die biologische Realität des domestizierten Bruttriebes bei unterernährten Tauben: Sie brüten, obwohl sie selbst verhungern, und produzieren Nachkommen, die keinen Chance haben zu überleben.
Die Genetik hier ist entscheidend: Über etwa 7.000 Jahre Domestikation, besonders intensiv in den letzten 500 Jahren, züchtete der Mensch einen übernatürlich hohen Bruttrieb in Tauben. Wildtauben (Felsentauben) brüten 1-2x pro Jahr, saisonal gebunden (Frühling/Sommer bevorzugt). Haustauben brüten 2-6x pro Jahr, ganzjährig. Und dieser Bruttrieb ist unabhängig vom Nahrungsangebot – ein Vogel mit vollem Magen brütet genauso wie ein hungriger Vogel.
Der evolutionäre Grund ist wirtschaftlich-menschlich: Ein kontinuierliches Angebot an Eiern und Fleisch war für eine Subsistenzwirtschaft wertvoll. Der biologische Preis ist eine Abhängigkeit der Tiere von menschlicher Versorgung. Ein unterernährte Taube wird brüten. Sie wird versuchen, ihre Jungen aufzuziehen. Wenn das Elterntier selbst mangel- und unterernährt ist, kann es der Jungen nicht ausreichend nähren – und diese Jungen sterben in den ersten Lebenswochen an Unterernährung, oft nach erheblichem Leiden.
Dies ist nicht Populationskontrolle – das ist Generationenleid, strukturiert und systematisch. Ein Fütterungsverbot perpetuiert nicht nur individuelles Leiden, sondern erzeugt kontinuierlich leidende Jungtiere ohne Überlebensfähigkeit. Das ist nicht nur ein Tierschutzproblem – es ist ein ethisches Desaster, weil es Leiden produziert, das keine Funktion hat, das nur besteht, weil ein Menschen eine Verordnung unterschrieben hat.
Ein wenig bekannter, aber biologisch bedeutsamer Aspekt der Stadttauben ist ihre Monogamie und ihre lebenslange emotionale Bindung zu ihrem Partner und zu ihrem Territorium. Tauben wählen einen Partner und bleiben diesem Partner für das ganze Leben treu. Wenn der Partner stirbt (durch Greifvogel, durch Krankheit, durch Hunger), kann es zu einer Neuverpaarung kommen, aber die Bindungsfähigkeit ist fundamental für die Spezies.
Das Nestrevier, einmal besetzt, wird meist lebenslang beibehalten. Eine Taube kehrt nicht nur zum Heimatschlag zurück, weil sie dort Nahrung findet – sie hat eine emotionale Bindung zu diesem Ort, weil dort ihr Partner lebt, weil dort ihre Jungen aufgezogen wurden, weil dort die sichere Brutplatz ist.
Diese Charakterisitken werden von Brieftaubenzüchtern ausgenutzt: Brieftauben werden von ihrem Partner getrennt, an einen sogenannten „Auflassort" gefahren, und das unbedingte Bedürfnis, zu ihrem Partner zurückzukehren, treibt sie zu extremen Fluggeschwindigkeiten und -leistungen. Aber dieser Zustand – erzwungene Trennung vom geliebten Partner – ist für die Taube ein Zustand extremen Stresses und Leidens.
Die ethische Implikation: Wenn ein Fütterungsverbot zu Hunger und vorzeitigen Todesfällen führt, bedeutet dies nicht nur den Tod eines Individuums – es bedeutet potentiell die Auflösung einer lebenslangen Partnerschaft, das Leiden eines Partners, der seinen Partner verliert, und häufig das Leiden von Jungtieren, die einen Elternteil verlieren. Das ist nicht nur Statistik von Todesfällen – das ist Leiden auf der Ebene von Beziehungen und Zugehörigkeit.
Moderne tierpsychologische Forschung zeigt, dass Tauben deutlich mehr kognitiven Fähigkeiten haben als lange angenommen: Sie können sich an Menschen erinnern, ihre Reaktionen differenzieren, zeigen Lernfähigkeit über lange Zeiträume. Stadttauben, die regelmäßig von Menschen gefüttert werden, erkennen diese Menschen wieder und ändern ihr Verhalten entsprechend.
Diese Fähigkeit zur Bindung an Menschen ist nicht sentimentale Anthropomorphisierung – es ist dokumentierte Tierverhalten. Claude Béata, ein französischer Tierarzt und Psychologe, hat in neuerer Forschung argumentiert, dass Tiere nicht nur triebgesteuerte Maschinen sind, sondern dass ihnen Grundgefühle zugehören: Liebe, Trauer, Freundschaft, Empathie. Diese Erkenntnisse basieren auf neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen, nicht auf Folklore.
Wenn Menschen Tauben regelmäßig füttern, entsteht eine Form der Beziehung – nicht auf ebener Augenhöhe, aber real. Die Taube entwickelt eine Erwartung, eine Routine, eine subtile Bindung. Wenn dieser Fütterungsprozess plötzlich durch ein behördliches Verbot unterbrochen wird, bedeutet das für die Taube nicht nur Hunger – es bedeutet die Zerstörung einer erwarteten Routine, möglicherweise eine Form von Vertrauensbruch auf der Ebene tierischen Verhaltens.
Dies ist nicht frivolous ethik – es ist eine Anerkennung, dass Tiere Erlebnis-Wesen sind (sentient beings), die leiden können, die Freude erleben können, und die Beziehungen eingehen können. Ein Fütterungsverbot schadet nicht nur körperlich – es hat auch psychologische Auswirkungen auf Tiere, die gelernt haben, Menschen zu trauen.
Vielleicht das stärkste Argument, das gegen Taubenfütterung vorgebracht wird, ist das Gesundheitsargument: „Stadttauben sind Gesundheitsgefahren! Sie tragen über 100 Krankheiten! Sie sind epidemiologische Risiken!" Dieses Argument wird in Stadtratssitzungen vorgetragen, in Zeitungsartikel zitiert, von Schädlingsbekämpfern promoviert.
Die wissenschaftliche Realität ist fundamental anders:
Erstens: Es gibt keine dokumentierten Epidemien durch Stadttaubenkot in deutschen Städten. Keine. Nicht in Berlin, nicht in München, nicht in Hamburg, nicht in Köln, nicht in Frankfurt. Wenn Stadttauben wirklich einen massiven Gesundheitsgefahren darstellen würden, wo sind die epidemiologischen Cluster? Wo sind die Ausbruchberichte? Wo ist die wissenschaftliche Dokumentation?
Zweitens: Die behauptete Liste von „100+ Krankheiten" ist eine Übertreibung. Ja, theoretisch können Tauben Träger von Salmonellen sein, wie viele andere Tiere auch. Ja, ein stark immunogeschwächter Mensch (HIV/AIDS-Patient, Chemotherapie-Patient, Neugeborenes unter 6 Monaten) könnte ein erhöhtes Risiko haben. Aber für die Allgemeinbevölkerung? Das Risiko ist praktisch negligibel.
Drittens – und das ist der Punkt, der die Argumente umkehrt – unterernährte Tauben sind MEHR Krankheitsträger als gesunde Tauben, nicht weniger. Ein immungeschwächtes Tier trägt mehr Pathogene mit sich, nicht weniger. Es ist ein Reservoir für Krankheiterreger. Wenn ein Fütterungsverbot unterernährte, immunosupprimierte Tauben schafft, dann schafft es auch eine Situation mit höherer infektiöser Last in der Stadtpopulation, nicht geringerer.
Viertens: Das Verwaltungsgericht Stuttgart 2021 forderte explizit, dass „infektiöse Gefährdung konkret nachgewiesen werden müsse" – nicht bloß behauptet. Der alte VG Stuttgart-Urteil von 2014, der Fütterungsverbote erlaubte, wird durch diese neuere Entscheidung faktisch überholt. Behörden können nicht einfach sagen, „es könnte eine Gesundheitsgefahr geben" – sie müssen konkret belegen, dass eine Gefahr existiert.
Ein zweiter kritischer Mythos, den viele Stadträte glauben: Wenn man Tauben nicht füttert, dann vermehren sie sich nicht so schnell, und die Population sinkt. Dies ist wissenschaftlich falsch, und es gibt konkrete Beweise aus Städten, die dies dokumentieren.
München ist hier das klassische Beispiel. Die Stadt hat öffentlich dokumentiert, dass Taubentötungen und Vergrämungsmaßnahmen nur kurzzeitig zu einem Populationsrückgang führen. Nach wenigen Wochen oder Monaten ist der Bestand wieder auf der früheren Höhe – nicht wegen Fütterung, sondern wegen des kontinuierlichen Zustroms von neuen Tauben aus privaten Beständen (entflogene Brieftauben, ausgesetzte Hochzeitstauben, ausgebüxte Zuchttauben), und wegen des übernatürlich hohen Brutzwanges.
Die biologische Realität ist diese: Der Bruttrieb ist genetisch fixiert, nicht durch Nahrungsangebot reguliert. Eine hungernde Taube brütet trotzdem. Eine unterernährte Taube legt trotzdem Eier. Wenn ein Gelege zerstört wird, legt die Taube innerhalb weniger Tage ein neues Gelege. Dies ist eine evolutionäre Anpassung – bei Wildvögeln, die ihre Nester verlieren, ist schnelle Eiablage ein Überlebensmechanismus.
Der Effekt eines Fütterungsverbots auf die Populationsdynamik ist daher:
❌ Geringere Brutrate: Falsch. Die Brutrate ist unabhängig vom Nahrungsangebot.
✓ Höhere Nestlingssterblichkeit: Wahr. Unterernährte Eltern können ihre Jungen nicht versorgen.
❌ Populations-Rückgang: Falsch. Der kontinuierliche Zustrom kompensiert jede Todesfallzunahme.
✓ Mehr Tierleid: Wahr. Hungernde Eltern und sterbende Jungen sind das Resultat.
Das Paradoxon: Ein Fütterungsverbot führt zu mehr Leiden pro Taube, aber nicht zu weniger Tauben. Das ist nicht Populationskontrolle – das ist strukturiertes Leiden ohne Effekt.
Das dritte Argument: „Taubenkot zerstört Gebäude und Denkmäler!" Dieses Argument wird besonders bei historischen Gebäuden und Denkmalschutz-Debatten vorgetragen. Es ist auch merkwürdig falsch.
Taubenkot hat einen pH-Wert von etwa 6-7 (schwach sauer bis neutral), abhängig von der Ernährung. Er verursacht oberflächliche Verfärbungen und kosmetische Beeinträchtigungen – das ist real. Aber strukturelle Schäden entstehen nicht kurzfristig. Die säurebedingte Oberflächenkorrosion von Beton oder Stein verursacht nicht sofort Schäden; es dauert Jahrzehnte, bis strukturelle Probleme entstehen.
Mit Taubenschlägen wird das kosmetische Problem elegantly gelöst: Der Kotalstoff wird in den Schlägen konzentriert und regelmäßig professionell entsorgt. Die Stadt bleibt sauber. Augsburg dokumentiert: Etwa 5 Tonnen Taubenkot pro Jahr fallen in den Schlägen an statt auf die Straße verteilt.
Die Kostenrechnung ist eindeutig:
Professionelle Dachreinigung (wo Tauben gehaust haben): 2.000-5.000 Euro (einmalig)
Fortlaufende Stadtreinigung bei dezentraler Taubenpopulation: 50.000-200.000 Euro/Jahr
Mit Taubenschlägen: 40.000-80.000 Euro/Jahr (Schlag + Betrieb + Futter + Betreuung)
Taubenschläge sind nicht teurer als die Alternativen – sie sind oft kostengünstiger.
Das international anerkannte Modell für tierschutzgerechte Stadttaubenpopulations-Regulierung ist das Augsburger Modell, benannt nach Augsburg, wo es 1995 konzipiert und implementiert wurde, und das später in Aachen seit 1995 systematisch umgesetzt wird. Das Modell funktioniert nach einem fünf-Komponenten-System:
Komponente 1: Sichere, hygienische Brutplätze
Taubenschläge sind speziell gestaltete Strukturen (Bauwagen, Container, speziell konstruierte Häuser), die eine Umgebung bieten, die den Bedürfnissen von Tauben entspricht: sichere Nistplätze (speziell gestaltete, hell-schalenförmige Brutkammern, idealerweise mit Privatsphäre), Schlafplätze, Plätze zum Ruhig-Stehen, Schwingen für Flugtraining. Die Struktur ist regelmäßig zu reinigen und zu desinfizieren, um Parasitenbefall zu minimieren.
Komponente 2: Artgerechte tägliche Fütterung
Im Schlag werden Tauben täglich gefüttert mit artgerechtem Körnerfutter (Weizen, Mais, Erbsen, Dari, Milo), frisches Wasser, und Grit (Magensteine und Mineralstoffe). Dies ist nicht sporadisch – es ist systematisch, mit regelmäßigen Fütterungszeiten, etwa 2-3x pro Woche intensivere Versorgung. Der Aufwand ist etwa 2 Arbeitsstunden pro Schlag pro Woche.
Komponente 3: Kontrollerter Eiaustausch – Das Kernstück der Geburtenkontrolle
Dies ist der kritische Innovation des Modells: Wenn Tauben im Schlag brüten (was sie trotzdem tun, weil der Bruttrieb unabhängig vom Nahrungsangebot ist), werden ihre echten Eier durch Gips-Attrappen ausgetauscht. Dies wird möglichst kurz nach der Eiablage gemacht, idealerweise innerhalb weniger Stunden.
Der ethische Kern dieses Systems ist brilliant: Es respektiert den Bruttrieb der Tauben (sie brüten, wie sie genetisch programmiert sind), vermeidet aber neue Jungtiere, die leiden würden. Die Tauben brüten die Attrappen aus, sitzen auf ihnen, entwickeln die vollen Elternverhalten – aber es schlüpft kein Küken, das unterernährt wird und leidet. Nach etwa 18-21 Tagen (der normale Brutdauer) geben die Tauben die Attrappen auf und beginnen einen neuen Brutzyklus – aber wieder ohne Nachkommen.
Dies ist tierschutzgerecht, weil es nicht die unterernährten, sterbenden Jungtiere produziert, die unter Fütterungsverboten entstehen würden. Es ist auch ethisch super zur Tötung von Tauben oder zur Zerstörung von Gelegen, weil es den tierischen Verhalt respektiert, statt ihn zu unterdrücken.
Komponente 4: Veterinäre Betreuung und Krankenversorgung
Regelmäßige tierärztliche Besuche in den Schlägen ermöglichen Impfungen, Behandlung von Erkrankungen, Parasitenbekämpfung. Dies reduziert die Krankheitsbelastung in der Population erheblich.
Komponente 5: Geografische Verteilung und umgebender Schutz
Taubenschläge werden an Orten mit hohen Taubendichten errichtet. Im Umkreis um einen Schlag (typisch: etwa 500m-1km) kann ein Fütterungsverbot verhängt werden, weil die Tauben vom Schlag versorgt werden und keine alternative Futtersuche in der Stadt nötig ist.
Die Forschung auf dieses Modell ist klar. Die 2020/2021 bundesweite Umfrage untersuchte 21 Städte mit Taubenschlägen und dokumentierte:
Subjektive Erfolgswahrnehmung:
76% der Kommunen berichten, dass Kosten gerechtfertigt sind
76% berichten positive Medienberichterstattung
57% bewerten das Konzept als erfolgreich
Ein teils/teils Status bei 4 von 21 Städten
Nur 2 von 21 Städten zeigen Ablehnung
Objektive Populationskontrolle:
Aachen (seit 1995): 9 Taubenschläge, geschätzte 1.200-1.500 Tauben im Schlag, ca. 2.500 in der Stadt gesamt (vs. früher deutlich höher). Dokumentierter Erfolg.
Augsburg (seit 2004): Mehrere Schläge, ca. 300-500 Tauben konzentriert, Kotalstoff in der Stadt um ca. 80% reduziert.
Norderstedt, Tübingen, Wiesbaden: Vollständig kommunal finanziert, langfristiger Erfolg dokumentiert.
Kritische Erfolgsfaktoren (aus der Forschung ableitbar):
Ausreichende Schlaganzahl: Faustregel ist etwa 1 Schlag pro 47.000 Einwohner (aus Aachen, Augsburg, Düsseldorf, Stuttgart, Erlangen berechnet)
Dauerhafte Kommunalfinanzierung: Müssen zu >80% von der Stadt getragen werden, nicht primär ehrenamtlich
Fachlich geeignete Betreuung: Ausgebildete, regelmäßig vor Ort tätige Betreuer
Konsequente Umkreis-Einhaltung: Die Fütterungszone muss wirklich fütterungsfrei sein
Regelmäßige Reinigung: Mindestens wöchentlich, um Parasitenlast zu kontrollieren
Eine typische mittelgroße Stadt (500.000 Einwohner) würde etwa 11 Taubenschläge benötigen.
Einmalige Investition pro Schlag: 15.000–40.000 Euro (abhängig von ob Bauwagen, Container, Neubau)
Jährliche Betriebskosten pro Schlag: 5.000–12.000 Euro (Futter, Reinigung, Reparaturen)
Tierärztliche Betreuung (für mehrere Schläge zusammen): 2.000–5.000 Euro/Jahr
Personalkosten für Schlagbetreuer:
Vollzeit-Position: 15.000–25.000 Euro/Jahr (oder ehrenamtlich mit Stipendium)
Für 11 Schläge wahrscheinlich braucht man 4-6 Vollzeit-Betreuungspositionen
Gesamtbudget für 11 Schläge in einer 500.000-Einwohner-Stadt:
Neubau (erste 2-3 Jahre): ca. 200.000 Euro (11 Schläge × 20.000 Euro durchschnittlich)
Jährlicher Betrieb danach: ca. 60.000–100.000 Euro/Jahr
Vergleich mit Alternativen:
Stadtreinigung Taubenkot (ohne Schläge): 50.000–200.000 Euro/Jahr (stark stadtabhängig)
Schädlingsbekämpfung/Vergrämung: 30.000–150.000 Euro/Jahr
Taubenschläge: 40.000–80.000 Euro/Jahr langfristig
Die finanzielle Wahrheit: Taubenschläge sind nicht teurer – sie sind in vielen Fällen kostengünstiger als die Alternativen, und das ist bevor man die Gesundheits- und Tierschutzvorteile kalkuliert.
Ein großes Problem ist dies: Viele erfolgreiche Stadttaubenprojekte werden durch Spenden und Ehrenamt finanziert, nicht durch städtische Budgets. Das ist langfristig nicht haltbar. Ehrenamtliche Betreuer sind burnout-gefährdet, Spenden sind volatil, kontinuierliche Finanzierung ist unsicher.
Das Rechtsgutachten der Berliner Tierschutzbeauftragten Kathrin Hermann, verfasst von Dr. Christian Arleth (Rechtsanwalt) und Dr. Jens Hübel (Veterinär), ist ein Wendepunkt in der deutschen Tierschutzrechtsprechung. Es dokumentiert systematisch, dass:
Stadttauben Fundtiere sind und damit unter Halterpflicht fallen
Fütterungsverbote ohne Stadttaubenkonzept rechtswidrig sind
Kommunen eine Garantenpflicht haben, und Verstöße können strafrechtlich relevant sein
Die 2014 VG Stuttgart-Entscheidung nicht mehr die rechtskonforte Position darstellt
Dieses Gutachten ist nicht nur akademisch – es wird zunehmend in Rechtsverfahren zitiert und von Gerichten beachtet.
2021 verbot das Verwaltungsgericht Stuttgart einer Stadt, Stadttauben zu töten, ohne hinreichend zu prüfen, ob mildere Mittel verfügbar sind. Dies ist eine entscheidende Aussage: Es signalisiert, dass Gerichte:
Taubenschläge als etablierte, funktionierende Alternative anerkennen
Tötung nicht mehr als erste Maßnahme ansehen, sondern als letztes Mittel
Tierschutzeerfordernisse (Art. 20a GG) ernstnehmen
Das Berliner Gutachten identifiziert mehrere Optionen für Tierschutzverbände und Einzelpersonen, um gegen rechtswidrige Fütterungsverbote vorzugehen:
Für Tierschutzverbände (mit Verbandsklagerecht):
Normenkontrollantrag nach § 47 VwGO: Direkte Anfechtung der Fütterungsverbots-Verordnung vor dem Oberverwaltungsgericht (möglich in 14 von 16 Bundesländern)
Verbandsbeschwerde gegen Genehmigungsentscheidungen, wenn eine Stadt z.B. legale Taubenschießereien genehmigt, ohne Alternativen wie Taubenschläge zu berücksichtigen
Für Einzelpersonen (die Tauben füttern):
Anfechtungsklage gegen behördliche Verwaltungsakte, die das Füttern untersagen
Feststellungsklage präventiv, um rechtliche Klarheit zu schaffen (z.B. „Ist meine Fütterung legal?")
Beschwerde gegen Bußgeldbescheide mit tierschutzrechtlichem Gutachten
In Extremfällen: Anzeige gegen Behördenmitarbeiter wegen § 17 TierSchG
Ein praktisches Beispiel: Die Erna-Graff-Stiftung (vertreten durch RA Hans-Georg Kluge) führt aktuell ein Verfahren vor dem Verwaltungsgericht Kassel an, um die Rechtswidrigkeit eines Fütterungsverbots durch sachkundige Dokumentation von Unterernährung und Tierleiden zu prüfen.
Ein tieferer philosophischer Punkt durchzieht dieses ganze Argument: Der Mensch hat einen besonderen Status der Verantwortung für Stadttauben, weil der Mensch diese Tiere geschaffen hat. Dies ist nicht moralisch optional – es ist ein ethisches Fakt, das aus der Geschichte folgt.
Arthur Schopenhauer schrieb im 19. Jahrhundert: „Die Welt ist kein Machwerk und die Tiere sind kein Fabrikat zu unserem Gebrauch. Nicht Erbarmen, sondern Gerechtigkeit ist man den Tieren schuldig." Dies ist nicht romantische Sentimentalität – es ist eine ethisch begründete Position: Wenn der Mensch ein Tier züchtet, gibt es eine Verantwortung, nicht einfach „es ist jetzt dein Problem, Taube" zu sagen und dann ein Verbot zu erlassen.
Die Vorarlberg-Website beschreibt es elegant: „Von einzelnen geliebt, von vielen als Plage betrachtet – vergessen scheint die einstige Beziehung, die Tauben und Menschen heute noch verbindet." Das ist das Kernproblem. Der Mensch hat diese Beziehung geschaffen, profitiert hat, und sich dann – im 20. Jahrhundert – einfach aus der Verantwortung verabschiedet hat.
Eine tierschutzgerechte Stadttaubenpolitik ist nicht ein „Geschenk" an die Tauben – es ist ein Einlösen einer historischen Schuld.
Die moderne Umwelt- und Tierethik (besonders die sogenannte „tiefe Ökologie") argumentiert, dass Naturwesen einen Eigenwert haben, nicht nur instrumental für menschliche Interessen. Eine Taube ist nicht „gut, wenn sie für Menschen nützlich ist" – eine Taube hat einen inneren Wert, weil sie existiert, weil sie leidensfähig ist, weil sie ihre eigenen Interessen hat.
Dies ist mehr als Sentimentalität – es ist eine erkenntnistheoretische und ethische Position: Wenn ein Lebewesen leiden kann, dann ist dieses Leiden moralisch relevant, unabhängig davon, ob ein Mensch es nützlich findet.
Ein absolutes Fütterungsverbot ignoriert diesen Eigenwert komplett. Es sagt praktisch: „Das Leiden dieser Taube ist moralisch irrelevant, weil wir die Taube nicht wollen." Das ist nicht eine Position, die mit modernen tierschutzethischen Standards haltbar ist.
Timothy Morton, ein anthropozänischer Philosoph, hat eine wichtige Unterscheidung gemacht zwischen individueller Schuld und kollektiver Verantwortung. Ich, als Individuum, bin nicht allein verantwortlich für den Klimawandel – aber als Teil der Menschheit bin ich teil einer Entität, die eine „geophysische Kraft" ist.
Ähnlich gilt hier: Eine einzelne Stadt ist nicht allein für die Existenz von Stadttauben verantwortlich – aber als Teil einer menschlichen Zivilisation, die diese Tiere gezüchtet hat, teilt die Stadt eine kollektive Verantwortung. Ein Fütterungsverbot zu erlassen, ohne dass funktionierende Stadttaubenprogramme existieren, ist eine Art kollektive Flucht aus dieser Verantwortung.
Rechtswidrige Fütterungsverbote aufheben:
Eine Stadt sollte zunächst prüfen, ob ihre bestehenden Fütterungsverbote noch legal sind, angesichts des Berliner Gutachtens und der neueren Rechtsprechung. Im Zweifel sollten sie suspendiert werden.
Notfallversorgung etablieren:
Eine Anlaufstelle für verletzte, kranke, oder stark unterernährte Tauben sollte etabliert werden, wahrscheinlich in Kooperation mit dem städtischen Tierschutzverein. Dies könnte ein einfacher Raum mit Käfigen, Futter, und Wasser sein, verbunden mit tierärztlichen Besuchen.
Öffentliche Kommunikation:
Eine Pressemitteilung, dass das Füttern von Stadttauben mit artgerechtem Körnerfutter nicht verboten ist, kann dem breiten Publikum kommunizieren, dass Privatpersonen einen legalen Akt durchführen, wenn sie Tauben füttern.
Bestandsaufnahme durchführen:
Eine wissenschaftliche Kartierung: Wo sind die Taubenschwerpunkte? Wie viele Tauben? In welchem Gesundheitszustand? Dies bietet eine Baseline für Erfolgsmetriken.
Bau von Taubenschlägen beginnen:
Basierend auf der Faustregel (1 Schlag pro 47.000 Einwohner) sollte ein Pilotprojekt mit 2-3 Schlägen begonnen werden, ideally in Hochdichte-Taubenzonen.
Betreuer und Schulung:
Ehrenamtliche oder gering bezahlte Betreuer sollten geschult werden auf: Taubenfütterung, Eiaustausch-Techniken, Reinigung, einfache gesundheitliche Beobachtungen.
Veterinärischer Partner identifizieren:
Ein Tierarzt, der regelmäßig die Schläge besuchen kann, sollte engagiert werden, idealerweise mit städtischer Bezahlung.
Budget-Verankerung:
Taubenschläge sollten in den städtischen Regelhaushalte aufgenommen werden – nicht als „Sonderprojekt", sondern als Standard-Tierschutzaufgabe, ähnlich wie Hundekontrolle oder Katzensterilisierungsprogramme.
Evaluation und Skalierung:
Nach 1-2 Jahren sollte eine Bewertung stattfinden: Hat die Populationsdichte abgenommen? Hat das Taubenkot-Problem abgenommen? Haben Bürgerbeschwerden abgenommen? Basierend auf dieser Evaluation kann das Programm skaliert werden.
Digitale Datenerfassung:
Ein System zur Dokumentation von ausgetauschten Eiern, Schlag-Besicherungen, Tauben-Gesundheit, kann helfen, die Effektivität zu monitoren und bei Politikern Glaubwürdigkeit zu generieren.
Die 2020/2021 Umfrage erfasste nicht nur Statistiken, sondern auch Aussagen von Projektleiterinnen in Städten, die Taubenschläge betreiben. Eine wiederkehrende Aussage war: „Das Problem war nicht das Geld – das Problem war, dass wir beginnen mussten, ohne zu wissen, ob es funktioniert." Nach 1-2 Jahren war die Skeptik verschwunden. Bürgerinnen berichten weniger Beschwerden. Tauben sehen gesünder aus. Der Kotalstoff in der Stadt ist reduziert.
Ein zweite wiederkehrende Aussage war: „Die Stadt hätte das viel früher finanzieren sollen – das Ehrenamt hat Grenzen." Viele Projekte leiden darunter, dass sie 80-90% auf Spenden und Ehrenarbeit angewiesen sind, während Stadtreinigung, Schädlingsbekämpfung, Hundesteuer – alles ist städtisch finanziert. Warum nicht Stadttaubenmanagement?
Eine dritte Aussage: „Wenn wir früher angefangen hätten mit Schlägen statt mit Vergrämung und Tötung, hätte das viel weniger gekostet und hätte viel weniger Leiden verursacht."
Diese Stimmen von Praktiker*innen sind wichtiger als abstrakte Rechtsdokumente. Sie zeigen: Das Modell funktioniert, die Kosten sind tragbar, und das Leiden wird reduziert.
Taubenfüttern ist nicht eine Option – es ist ein Imperativ.
Diese Schrift hat dokumentiert, durch rechts-, wissenschaft-, ethik-, und praktische Perspektiven:
Rechtlich: Stadttauben sind Haustiere, Kommunen sind Halter, Fütterungsverbote ohne Stadttaubenprogramme sind rechtswidrig nach TierSchG, BGB, und Art. 20a GG.
Wissenschaftlich: 62,5% der Gesundheitsprobleme von Stadttauben ist Unterernährung. Fütterungsverbote führen nicht zu weniger Tauben, sondern zu mehr Tierleid. Gesunde, gefütterte Tauben sind weniger Krankheitsträger als unterernährte Tauben.
Ethisch: Der Mensch züchtete diese Tiere über 7.000 Jahre. Eine absolute Absage der Verantwortung durch ein Fütterungsverbot ist ethisch nicht defensibel in modernen Gesellschaften, die den Tierschutz als Verfassungswert erkannt haben.
Praktisch: Das Augsburger Modell funktioniert. Es ist kosteneffektiv. Es reduziert Leiden. Es wird in Dutzenden von Städten mit Erfolg implementiert.
Ein absolutes Fütterungsverbot ist daher nicht nur rechtswidrig – es ist auch unweise, unwirksam, und unmenschlich.
Die Alternative ist klar: Betreute Taubenschläge mit artgerechter Fütterung, Eiaustausch als Geburtenkontrolle, veterinäre Betreuung, und langfristige, stabile, städtische Finanzierung. Das kostet Geld – aber nicht mehr als die Alternativen. Und es rettet Leben und reduziert Leiden in einer urbanen Landschaft, die der Mensch geschaffen hat.
Die Zeit für Ausreden ist vorbei. Die rechtlichen Grundlagen sind klar. Die praktischen Modelle sind bewährt. Die ethischen Imperative sind unabweisbar. Es ist Zeit für Städte, ihre Verantwortung einzulösen – nicht für eine „Taube", sondern für eine Spezies, die der Mensch geschaffen hat und nun nicht einfach abandonnieren darf.